7. Januar 2010, Aktuelles, Uni Jena

Entstehungsorte der Genetik

Spätestens als Craig Venter vor wenigen Jahren behauptete, er habe als erster das menschliche Genom sequenziert und die menschliche Erbinformation komplett entschlüsselt, schien das Zentrum der Genetik in den USA zu liegen. Doch die Genetik gedeiht nicht nur fernab Europas, sie hat hier sogar ihren Ausgangspunkt, wie Wissenschaftler der Universität Jena nachgewiesen haben. „Brünn kann als zentraler symbolischer Entstehungsort der Genetik bezeichnet werden“, sagt Prof. Dr. Uwe Hoßfeld. „Böhmen und Mähren“, so der Biologiedidaktiker weiter, „nehmen in der Entwicklung der modernen Vererbungsforschung eine Schlüsselstellung ein“. Das zusammen mit Prof. Dr. Dr. Olaf Breidbach geleitete Jenaer Forscherteam hat nun eine erste Darstellung zur Entwicklung der Genetik in den ersten drei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts in Böhmen und Mähren vorgelegt. Um das Projekt zu erweitern und zu vertiefen, fördert es die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) nun für weitere zwei Jahre mit rd. 130.000 Euro.

Harmlose Erbsen waren es, mit denen der Augustiner-Mönch Johann Gregor Mendel (1822-1884) in Brünn experimentierte. Bis heute werden seine Erkenntnisse zur Vererbung als Mendelsche Gesetze gelehrt; Mendel gilt als Vater der Genetik. Zunächst aber fanden die 1865 als „Versuche über Pflanzenhybriden“ veröffentlichten Resultate keinen Widerhall. Sie wurden erst 1900 wiederentdeckt und aus der harmlosen Erbsenzählerei des Mönchs erwuchs eine Entwicklung, die Mendel zum „slawischen Helden“ und Genetik in der Selbstwahrnehmung zur national-slawischen Wissenschaft machte. Mendels Vereinnahmung hat zu einer deutlichen Abgrenzung von den von anderen Seiten getragenen Traditionen einer darwinistisch/haeckelschen Evolutionsbiologie geführt. „Dabei verzahnten sich in Böhmen und Mähren ideologische Bewertungen und die innerfachliche Entwicklung des Fachs Genetik in diesem Raum“, unterstreicht Projektpartner Prof. Dr. Dr. Olaf Breidbach vom Ernst-Haeckel-Haus der Jenaer Universität.

Die Wissenschaftler haben in den vergangenen zwei Jahren für ihre Forschungen zahllose Archive, Sammlungen sowie 55 Zeitschriftenreihen durchforstet, um das notwendige Material zu erhalten. Aus ihren bibliographischen Recherchen ist ein umfassender Literaturfundus entstanden, der in diesem Jahr ebenso veröffentlicht werden soll wie Gesamt-Bibliographien der wichtigsten Protagonisten des slawischen Mendelismus, auch eine digitale Datenbank ist in Vorbereitung.

Für die Öffentlichkeit werden die Jenaer Forschungen ebenfalls greifbar sein: Für 2010 ist geplant, die Brünner Mendel-Gedächtnisausstellung von 1910 mit zahlreichen Bilddokumenten in den Räumen des Ernst-Haeckel-Hauses zu rekonstruieren und der Öffentlichkeit zugänglich zu machen.

Die Recherchen der Jenaer Wissenschaftshistoriker machen auch deutlich, wie unterschiedlich das Verständnis des Gen-Begriffs und der Umgang mit ihm waren. All dies vor der Entwicklung, die der Biologismus in jenes Konglomerat aus Humangenetik, Rasselehre und Eugenikdiskussion führte, das bis zum Versuch der Heydrich-Stiftung ging, in Prag die Rassenkunde als eigenständigen völkisch bestimmten Forschungsbereich zu etablieren.

In den kommenden Monaten werden sich die Jenaer Forscher nun v. a. mit drei Themenkomplexen intensiver beschäftigen: der Theorie der Vererbung und der Vererbungsmechanismen, dem Mendelismus in Züchtungsforschung und Medizin sowie mit der Person Mendels und dem Mendelismus. „Denn das Bild des Mönchs Mendel muss und wird sich ändern“, ist sich Biodidaktiker Hoßfeld sicher. Mendel wird auf gleicher Höhe mit Haeckel, Lamarck und Darwin stehen – für Craig Venter wird es trotz aller Verdienste sicher noch dauern, bis er diese Stellung erreichen kann. (Uni Jena)



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