30. September 2010, Uni Jena

Russlands ambivalentes Verhältnis zu seiner Geschichte

„Zerrissene Erinnerung. Der Umgang mit Stalinismus und Zweitem Weltkrieg im heutigen Russland“ lautet der Titel des neuen Buches von Irina Scherbakowa, das am „Jena Center Geschichte des 20. Jahrhunderts“ der Friedrich-Schiller-Universität Jena entstanden ist. Der soeben vorgelegte Band dokumentiert die Gastprofessur der russischen Historikerin und Publizistin, die sie im Wintersemester 2008/09 in Jena absolviert hat. Scherbakowa, eine begnadete Erzählerin, ist bereits Autorin und Herausgeberin einer ganzen Reihe auf Deutsch erschienener Bücher, die auf unterschiedliche Weise von ihrer Tätigkeit als Historikerin einer sowjetischen „Geschichte von unten“ und als unermüdlicher Kämpferin für eine demokratisch aufgeklärte russische Geschichtskultur zeugen.

In Russland gilt derzeit jeder kritische Blick auf die Vergangenheit schnell als Nestbeschmutzung. Wie ist es zu erklären, dass in den letzten Jahren sogar Stalin als vermeintlich „effektiver Manager“ wieder salonfähig geworden ist? Was bedeutet dies für das Gedenken an den Massenterror der dreißiger Jahre, an die Schrecken des Gulag und an die Opfer zweier Diktaturen, an das Schicksal der ehemaligen Zwangsarbeiter und Kriegsgefangenen? Welches Bild von der Vergangenheit macht sich die heutige russische Jugend? Wie steht es um den Kult des „glorreichen Sieges“ im Zweiten Weltkrieg?

Diese Fragen und geschichtspolitischen Kontroversen stehen im Mittelpunkt der Essays ihres neuen Buches. In einem ausführlichen Gespräch gibt die russische Historikerin darüber hinaus Einblicke in ihre eigene Familienbiographie und ihre Arbeit: Ende der siebziger Jahre, als hinter dem Eisernen Vorhang noch niemand von „Oral History“ sprach, begann Scherbakowa, Interviews mit Opfern des Stalinismus und ehemaligen Inhaftierten des Gulag zu führen und auf Tonband aufzuzeichnen. Der Antrieb zu dieser Arbeit entsprang nicht zuletzt der Erkenntnis, dass ihre Familie am Aufbau des sowjetischen Staatsapparats beteiligt gewesen war: Ihr Großvater hatte in der Komintern Karriere gemacht, war dann aber im Zuge der antijüdischen Kampagne gegen die sogenannten Kosmopoliten in Ungnade gefallen. Nur durch glückliche Umstände gerieten er und seine Familie nicht ins Räderwerk der stalinistischen Säuberungen.

Zur Person
Irina Scherbakowa, geb. 1949, ist Historikerin und Publizistin. Sie arbeitet für die Menschenrechtsorganisation „Memorial“ in Moskau. Von 1992 bis 2007 lehrte sie am Zentrum für Oral History der Sozial- und Geisteswissenschaftlichen Universität Moskau. Sie war Fellow am Wissenschaftskolleg zu Berlin und am Institut für die Wissenschaften vom Menschen in Wien.

Bibliographische Angaben:
Irina Scherbakowa: Zerrissene Erinnerung. Der Umgang mit Stalinismus und Zweitem Weltkrieg im heutigen Russland (Jena Center Geschichte des 20. Jahrhunderts. Vorträge und Kolloquien, Bd. 7), Wallstein Verlag Göttingen 2010, 152 Seiten, Preis: 15 Euro, ISBN: 978-3-8353-0601-1.
(Uni Jena)



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