15. März 2011, Uni Jena

Alte Atommeiler können sofort vom Netz

Die Katastrophenmeldungen aus Japan reißen nicht ab. Nach dem Erdbeben und dem Tsunami rückt der drohende GAU in den Atomanlagen des Landes immer stärker in den Mittelpunkt des Interesses. Die prekäre Situation im Fernen Osten entfacht auch hierzulande die Diskussion um Atomkraft und Reaktorsicherheit aufs Neue. Der Geowissenschaftler Prof. Dr. Gerhard Jentzsch von der Friedrich-Schiller-Universität Jena legt im Interview seine Sicht der Dinge dar.

Prof. Jentzsch, muss die zivile Nutzung der Atomkraft angesichts der Ereignisse in Japan generell in Frage gestellt werden?

Gerhard Jentzsch: Wir müssen bei dieser Frage die Frage von hinten beantworten: Solange es keine sichere Endlagerung gibt, dürfen wir keinen weiteren Atommüll produzieren. Die Radionuklide haben Halbwertszeiten von bis zu Milliarden Jahren – das heißt, dieser Müll bleibt da und klingt in seiner Gefährlichkeit kaum ab.

Sie plädieren dafür, die deutschen Atommeiler abzuschalten?

Gerhard Jentzsch: Die alten Meiler können sofort vom Netz. Die Stromkonzerne haben doch bewiesen, dass die alten Kraftwerke gar nicht benötigt werden.

Ein solcher Erdstoß wie jetzt in Japan ist in Deutschland nicht zu erwarten. Muss die Erdbebensicherheit der Atommeiler dennoch verstärkt werden?

Gerhard Jentzsch: Auch ein relativ schwaches Beben kann enorme Schäden anrichten. Entscheidend ist nicht die Magnitude eines Bebens, die ein Maß für die Energiefreisetzung ist – da wird aktuell im Fernsehen viel hanebüchener Unsinn erzählt – entscheidend ist vielmehr die Intensität des Bebens, also die Auswirkungen der Erdstöße direkt vor Ort.

Ein relativ schwaches Beben in Deutschland kann ebenfalls verheerende Schäden anrichten?

Gerhard Jentzsch: Wir hatten schon geringe Beben mit relativ hoher Intensität. Das ist beispielsweise im Rheinland jederzeit möglich. Kommen noch weitere Faktoren hinzu – etwa ein Hochwasser – kann es zu unvorhersehbaren Folgen führen.

Was meinen Sie damit?

Gerhard Jentzsch: Viele Atommeiler, wie etwa Mülheim/Kärlich, der ja zum Glück wegen der Erdbebengefährdung nicht mehr am Netz ist, stehen in der Nähe von Flüssen, wegen des Kühlwasserbedarfs. Führt der Fluss nun Hochwasser, kann auch ein schwaches Beben dazu führen, in den wassergesättigten Sanden die internen Bindungen zu lockern und damit gleichsam den Sand zu verflüssigen. So könnte der ganze Reaktorblock ins Rutschen geraten.

Das setzt aber viele bedrohliche Faktoren auf einmal voraus.

Gerhard Jentzsch: Die Erfahrung lehrt uns, dass wir immer mit dem Schlimmsten rechnen müssen. In Japan wurden beispielsweise die Schutzwälle gegen Tsunamis für Flutwellen von sechs Meter Höhe ausgelegt und jüngst noch erhöht. Nun zeigte der aktuelle Tsunami, dass diese Höhe nicht ausgereicht hat.

In welchem Abstand vom Epizentrum eines Erdbebens drohen Gefahren?

Gerhard Jentzsch: Das lässt sich nicht vorhersagen. Ich möchte ein Beispiel nennen: Als 1992 bei Roermond die Erde mit einer Magnitude von 5,9 bebte, fielen noch in einer Entfernung deutlich über 100 Kilometer Schornsteine um. Dabei ist ein Beben der Stärke 5,9 ein eher moderates Beben.

Wie groß sind denn die Gefahren durch Nachbeben?

Gerhard Jentzsch: Die sogenannten Nachbeben bergen die Gefahr, dass Gebäude oder Anlagen, die den ersten Erdstoß überstanden haben, bei weiteren Bewegungen der Erde in sich zusammenfallen. So etwas ließ sich jüngst bei dem Beben in Christchurch in Neuseeland beobachten. Früher kamen hohe Opferzahlen meist durch die verheerenden Brände zustande, die nach den Erdbeben auftraten. So geschehen 1923 in Tokio und 1906 in San Francisco.

Als Wissenschaftler können Sie Warnungen aussprechen und fundierte Urteile abgeben. Fühlen Sie sich von der Politik ernstgenommen?

Gerhard Jentzsch: Ich bin offen gesagt sehr frustriert, wenn ich sehe, wie mit unseren Erkenntnissen umgegangen wird. Vier Jahre lang gehörte ich dem Arbeitskreis Auswahlverfahren Endlagerstandort an. Als wir unsere Ergebnisse präsentierten, gab es einen Sektempfang und wenig später Neuwahlen, worauf unser Papier in der Schublade verschwunden ist.

(Interview: Stephan Laudien) (Uni Jena)



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