Neue Erkenntnisse zur frühen Geschichte der Genetik
Angesichts neuer Erkenntnisse in der Forschung muss die frühe Geschichte der Genetik neu geschrieben werden. Fanden Wissenschaftler der Universität Jena in Kooperation mit Kollegen aus Prag doch heraus, dass die tradierte Geschichte der „Wiederentdeckung“ der Vererbungsgesetze Gregor Johann Mendels um einige Facetten ergänzt bzw. erweitert werden muss.
Alles fing im Jahr 1865 an: Mendel, heute als „Vater der Genetik“ bekannt, publizierte seine Forschungsergebnisse über die Kreuzungsversuche von Erbsenpflanzen, die jedoch seinerzeit wenig Beachtung fanden. Seine Handschriften verschwanden. Erst um 1900 entdeckten drei Naturwissenschaftler die später sogenannten Mendelschen Gesetze wieder: der holländische Biologe Hugo de Vries, der deutsche Pflanzengenetiker Carl Correns und der österreichische Pflanzenzüchter Erich von Tschermak-Seysenegg.
„Seit nunmehr 111 Jahren haben wir das so geglaubt“, sagt Prof. Dr. Uwe Hoßfeld, Leiter der AG Biologiedidaktik der Universität Jena. „Doch in Wirklichkeit waren es vier, wenn nicht sogar fünf Wiederentdecker der Mendelschen Regeln“, wie das Team von Wissenschaftshistorikern und Biologen jetzt ermittelt hat. Weiterhin ging man bislang davon aus, dass die Forschung parallel und unabhängig voneinander vonstattengegangen ist. „Der bisher unbekannte und nun edierte Briefwechsel der Brüder Armin und Erich von Tschermak-Seysenegg aus der Zeit 1898-1901 führt zu einer Korrigierung der früheren Annahme“, so Dr. Michal Simunek. Die Forscher belegen z. B., dass tatsächlich einige von den Wissenschaftlern untereinander Pflanzensamen getauscht und in Briefen Forschungsergebnisse besprochen haben.
Bei dem durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderten Projekt zur „Geschichte der Genetik in Böhmen und Mähren, 1900-1930“ kooperieren Jenaer Forscher mit Wissenschaftlern der Akademie der Wissenschaften in Prag sowie des Mährischen Landesmuseums in Brno. Bislang sind zu diesem Thema zahlreiche Publikationen erschienen. Jetzt sind zwei Bände aus der wissenschaftlichen Reihe „Studies in the History of Sciences and Humanities“ publiziert worden, die sich mit ausgewählten Problemen der frühen Mendel-Forschung auseinandersetzen.
Der Band Nr. 27 bringt zum ersten Male die bisher unbekannte Korrespondenz aus dem Zeitraum 1898-1951 zwischen den Brüdern, dem Physiologen Armin und Pflanzenzüchter Erich von Tschermak-Seysenegg. Ab 1900 legte Armin verschiedene Schriften vor, aus denen hervorgeht, dass neben de Vries und Correns sein jüngerer Bruder Erich an der Forschung zu Mendels Gesetzen beteiligt gewesen sein soll. Sich selbst schließt er, trotz seiner aktiven Beteiligung an den Ereignissen von 1900 und 1901, aus der Reihe der sogenannten Wiederentdecker aus.
Aus welchen Gründen? Warum nahm er sich selbst zurück und überließ dem jüngeren Bruder Erich den gesamten Ruhm? „Die beiden verband eine eigenartige Bruderliebe, wie es sie sonst unter Wissenschaftlern kaum gibt“, berichtet Hoßfeld. Erich erntete den gesamten (Wiederentdecker)Ruhm. Armin hingegen verschwieg der Öffentlichkeit seine Leistungen und stellte sich somit in den Schatten des Bruders. Dabei scheint der Augenphysiologe der begabtere Kopf von beiden gewesen zu sein. Armin von Tschermak-Seysenegg interessierte sich umfassend für den Gegenstand der Mendelschen Gesetze (insb. die numerischen Verhältnisse). Deswegen konsultierte mit ihm sein jüngerer Bruder weitgehend die Problematik. Man kann davon ausgehen, dass der von Erich von Tschermak-Seysenegg im Jahr 1900 bzw. 1901 vorgelegte Beitrag zur „Wiederentdeckung“ de facto ein Resultat intensiver Zusammenarbeit mit seinem Bruder Armin war. Der ganze Umfang dieser Zusammenarbeit ist jedoch schwer zu rekonstruieren, denn heute sind nur einige Briefe des älteren Bruders der Nachwelt erhalten geblieben. Sie wurden vor kurzem von Dr. Simunek bei der Familie von Armins Sohn bzw. Enkel identifiziert. „Die traditionelle Auffassung der frühen Geschichte der Genetik ist durch diese neuen Erkenntnisse nachzuprüfen“, sind sich beide Wissenschaftler sicher.
Der zweite Beitrag zur Geschichte der Mendel-Forschung (Band Nr. 28) bietet die Korrespondenz der ersten Mendel-Biografen, wie Willam Bateson, Hugo Iltis und Erich v. Tschermak-Seysenegg, mit den zwei Neffen von Mendel aus der Zeit 1902-35. Nach 1900 wurden die Neffen eine der wichtigsten Quellen für die biografischen Darstellungen von Gregor J. Mendel. Ihre Aussagen betreffen meistens die Familiengeschichte und den letzten Abschnitt von Mendels Leben. Auch diese Korrespondenz ist im neuen Band in der kompletten Form zum ersten Mal publiziert. (Uni Jena)
» Diesen Artikel via Mail weiterempfehlen
Schreiben Sie einen Kommentar »
Uni Jena: Masterstudiengang ohne vorheriges Bachelorstudium
An der Friedrich-Schiller-Universität Jena ist es nun möglich, den dreisemestrigen berufsbegleitenden Masterstudiengang „Weiterbildung & Personalentwicklung“ auch ohne ein vorheriges Bachelorstudium zu absolvieren. Mit der Änderung der Studienordnung wird der Weg für Studieninteressierte geebnet, die bisher keinen akademischen Hintergrund haben. Die…
“genius loci” – philosophische Essays und Kunstfotografie
Unter dem Titel „genius loci“ vereinen der Jenaer Philosophie-Professor Klaus Vieweg und der in Los Angeles lebende Fotograf Patrick Lakey philosophische Essays und Kunstfotografie. Die anschauliche Publikation richtet sich insbesondere an die philosophisch interessierte Öffentlichkeit, betont Vieweg, der an der…
Bewegungsmuster zur Touchscreen-Nutzung bei Kleinkindern
Ob Tablet-Computer oder Smartphone – Touchscreens lassen sich kinderleicht und intuitiv bedienen: berühren, wischen, zoomen. Bereits als Kleinkind erschließen wir uns diese sensomotorischen Fähigkeiten. Wenn Kinder zwischen acht und 13 Monaten beginnen, mit ihrem Zeigefinger den Brei auf der Tischplatte…
Kohlenmonoxid für die Medizin nutzen
Es ist ein geruchloses, unsichtbares Gas und ein tödliches Gift: Wird Kohlenmonoxid – chemisch kurz CO – eingeatmet und gelangt ins Blut, verhindert es den lebensnotwendigen Sauerstofftransport und das führt unweigerlich zum Erstickungstod. Umso mehr mag es verwundern, dass das…
Herzmuskel-Krankheitsmechanismus ARVC5 durch Nanomedizin entschlüsselt
Biophysiker der Universität Bielefeld haben einen entscheidenden Beitrag zu einer internationalen Studie zur Erbkrankheit ARVC geleistet. ARVC (arrhythmogene rechtsventrikuläre Kardiomyopathie) ist eine gefährliche Form von Herzmuskelerkrankung. Sie führt zu plötzlichem Herztod und ist weiter verbreitet, als bislang angenommen. Das berichtet…