Die Bestattungskultur als Seismograph für sozialen Wandel
Der Tod beendet das Leben – aber muss dies auch zwangsläufig das Ende der Individualität bedeuten? Wenn Menschen meinen, in traditionellen Ritualen keine Orientierung mehr zu finden, suchen sie auch für den letzten Gang ihrer Angehörigen einen ganz eigenen Weg. Die Bestattungskultur als Seismograph für sozialen Wandel – der Frankfurter Soziologe Dr. Thorsten Benkel ist davon überzeugt, dass Friedhöfe sich bestens eignen, um „Transformationsvorgänge“ in der Gesellschaft zu diagnostizieren. „Friedhöfe sind eben nicht die Endstation der Gesellschaft“, so der Wissenschaftler, der im Fachbereich Gesellschaftswissenschaft an der Goethe-Universität forscht. Die Uniformität der Friedhöfe war gestern, heute dominiert zusehends die individuelle Gestaltung der Gräber.
Benkel hat in den vergangenen eineinhalb Jahren „Feldforschung auf dem Friedhof“ betrieben: 160 Friedhöfe insbesondere in bundesdeutschen Großstädten und im Rhein-Main-Gebiet erkundete er – manche auch mehrmals. Er hat mit Bestattern, Steinmetzen und Angehörigen gesprochen. Noch ist die Studie nicht abgeschlossen, aber einige wichtige Tendenzen lassen sich bereits ablesen: „So sind an die Stelle religiöser Symbole und der damit verbundenen Dokumentation einer Religionszugehörigkeit Verweise auf die individuelle Persönlichkeit getreten“, konstatiert Benkel. „Zwar ist das Symbol des Kreuzes nach wie vor weit verbreitet; es gilt allerdings eher als ein Zeichen des Verlusts und der Trauer.“
Fotos auf Grabsteinen sind in einigen Regionen Deutschlands schon im 20. Jahrhundert üblich gewesen, doch inzwischen findet man sie häufiger – und auch die Art der Fotos spiegelt wider, dass die Angehörigen den Verstorbenen individueller und leibhaftiger darstellen wollen, ein einfaches Porträtfoto reicht dafür nicht aus. Beliebt sind Fotos beispielsweise in vertrauter Umgebung, bei Freizeitbeschäftigungen, sogar im Kreis von Freunden oder in alltagstypischen Situationen. Hobbys werden sehr häufig und in verschiedenster Weise dargestellt: das geliebte Kleidungsstück, der Geigenkasten, die Rockgitarre, Golf- und Hockeyschläger, Snow- und Skateboards und militärische Devotionalien werden in die Grabgestaltung integriert. Es gibt Grabsteine in Form von Autos, Gebäuden, Mänteln, Tieren, Instrumenten, Rechenschiebern, Schiffen, menschlichen Körpern oder – was in der Welt der ständigen Erreichbarkeit auch an Orten der letzten Ruhe nicht ausbleiben darf: in Form eines Mobiltelefons.
„Friedhofsbesuchern bleiben die Vereinszugehörigkeiten, individuelle Ansichten und gar Lebensphilosophien der Verstorbenen nicht verborgen“, berichtet Benkel. Nicht jede intime Zuneigungsbekundung, jedes Zitat, jeder Racheschwur oder Sinnspruch lässt sich entziffern; kryptische Formulierungen, die nur den Eingeweihten vorbehalten sind, wecken gleichermaßen erhöhte Aufmerksamkeit bei zufälligen Besuchern. Ist diese neue Bestattungskultur nicht die reale Fortsetzung der virtuellen öffentlichen Darstellung – vom Facebook zum Friedhof? Dazu Benkel, der sich seit Jahren in seiner Forschung auch mit Praxen der individuellen Selbstpräsentation im Internet beschäftigt: „Die individuelle Lebenswelt der Menschen dringt immer mehr nach außen; die Trennung von Öffentlichkeit und Privatsphäre durchläuft einen Wandel – im Leben und auch danach.“
Zu Zeiten, als mit der Herkunft auch schon der spätere Beruf oder der Wohnsitz und damit die spätere Grabstätte fest stand, gehörten diese Angaben auch ins Repertoire der Grabinschriften – doch auch das hat sich mittlerweile geändert: „In der Bestattungskultur geht es nicht mehr so sehr darum, dass die Angehörigen den Verstorbenen in einen gemeinschaftlichen Rahmen, zum Bespiel in die Dorfgemeinschaft, eingliedern, im Vordergrund steht heute vielmehr die Feier der persönlichen Einzigartigkeit“, erläutert der Soziologe.
Eigentlich ist der Friedhof ein Ort der Kollektivierung, ja fast der Gleichmachung – zumindest verbindet alle der endgültige Abschied vom Leben im Diesseits. Ist die neue Gestaltungsvielfalt der Grabstätten auch als individueller Ausbruchsversuch zu werten? „Ja, das lässt sich aus soziologischer Perspektive so deuten“, meint Benkel. Es lassen sich aber zeitgleich zwei extreme Tendenzen beobachten: so individuell wie möglich – so anonym wie möglich. Denn Beisetzungen im Friedwald oder auf Rasenflächen ohne Namenskennung erfahren seit einigen Jahren enormen Zuspruch. Wie erklärt der Soziologe diese Dialektik zwischen Individualität und Anonymität? „Das ‚Fehlen‘ eines Grabes steht einerseits für die Freiheit, damit auch für die Eigenbestimmtheit, aus etablierten Formen auszubrechen; es birgt andererseits aber auch einen pragmatischen Aspekt: Diese Form der Bestattung ist die kostengünstigste und für die Angehörigen fällt keine Pflege an.“ Und sie entspricht der zunehmenden Mobilität der Gesellschaft, wo für den regelmäßigen Besuch auf dem Friedhof und die Grabpflege oft keine Zeit bleibt. Die November-Rituale gehören heute noch am ehesten in den religiös geprägten und vor allem stärker ländlichen Regionen zu den anerkannten Konventionen.
Das Forschungsthema „Neue Formen der Abschiedskultur“ ist für Benkel und seinen Mitarbeiter Matthias Meitzler nicht mit der Analyse der Gestaltungsvielfalt von Grabstätten ausgeschöpft. Auf seinem Programm stehen auch die soziale Relevanz des Umgangs mit toten Körpern (wie wird im Trauerfall der tote Körper von der Person unterschieden?), die Kommunikationsform von Todesfällen und Traueranzeigen und gesellschaftlichen Erwartungshaltungen gegenüber den Angehörigen. Bereits im August 2012 ist von Thorsten Benkel im Logos-Verlag (Berlin) das Buch „Die Verwaltung des Todes – Annäherungen an eine Soziologie des Friedhofs“ erschienen (ISBN 978-3-8325-3126-3, 173 Seiten, 23,50 Euro). Weitere Publikationen sind in Vorbereitung. (Uni Frankfurt)
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