24. September 2010, Aktuelles, Uni Frankfurt

Argentinien ist Gastland der Frankfurter Buchmesse 2010

Nach Mexiko 1992 und Brasilien 1994 ist Argentinien in diesem Jahr das dritte lateinamerikanische Gastland der Frankfurter Buchmesse. In den deutschen Feuilletons sind Rezensionen zu Neuerscheinungen vom Land am Ende der Welt gefragter denn je. Der Frankfurter Romanist Prof. Roland Spiller, der sich seit mehr als 20 Jahren intensiv mit argentinischer Gegenwartsliteratur beschäftigt, schaut in seinem Beitrag in der aktuellen Ausgabe des Wissenschaftsmagazins Forschung Frankfurt (2/2010) bewusst abseits der Bestsellerlisten.

Spiller interessiert sich besonders dafür, wie sich argentinische Schriftsteller mit Gewaltherrschaft in Südamerika auseinandersetzen; im Zentrum steht die argentinische Militärdiktatur, deren Schergen von 1976 bis1982 Tausende von Menschen folterten und ermordeten. Die Autoren betreiben einerseits Ursachenforschung, sie entwickelt aber vor dem Hintergrund des Grauens auch Zukunftsvisionen. Besonders typisch ist Ricardo Piglias bereits während der Diktatur entstandener Roman Respiración artificial, 1981) (Künstliche Atmung, 2002). Er macht sich mit „historischem Blick“ auf die Suche nach einer Utopie für die Gegenwart. Häufig wählen die argentinischen Literaten auch die Perspektive von Kinder- und Jugendlichen, um nicht in der Vergangenheit zu verharren, so etwa Laura Alcoba, Elsa Osorio, Marcelo Figueras und Alan Pauls, die alle im Oktober auch zur Frankfurter Buchmesse kommen werden.

Brutalität und Gewalt gegen Anderslebende und -denkende gab es in Argentinien schon weit vor der Militärdiktatur. Sie prägen im 19. Jahrhundert auch den Umgang mit den Indios; in der sich neu formierenden Nation war Schreiben, ein Privileg der Gebildeten, bedeutete Zivilisieren und Nationalisieren. Esteban Echeverría degradiert in La cautiva (1837, 1871) (Die Gefangene, 2010), einer extreme Landschaftserfahrung der Pampa in romantischer Verklärung, die dort lebenden Indios zu gewalttätigen und trunksüchtigen Untermenschen. Doch bereits 1870 enttarnt Lucio Mansilla in Una excursión a los indios ranqueles (1870) (Eine Expedition zu den Ranquel-Indianern, 1877) den barbarischen Charakter der Zivilisation. Seine Begegnungen mit den Ureinwohnern Argentiniens vermitteln einen Eindruck, wie Kulturkontakt offen und respektvoll verlaufen kann.

Piglias Respiración artificial (Künstliche Atmung) verschachtelt die Gewalterfahrungen des 19. und des 20. Jahrhunderts. „Die aktuelle Diktatur kann verschlüsselt durch die vergangene dargestellt werden, sie ist jedoch keine identische Wiederholung“, beschreibt Spiller Piglias historische Sichtweise. Piglia entging übrigens der Zensur, die er mit subtilem Humor auf’s Korn nimmt. Erzählerische Intelligenz zeichnet das Gesamtwerk des Autors und Historikers aus. Er fügt eine Vielzahl von Stimmen und Textebenen so dicht und virtuos ineinander, dass sich darin das Grauen und der Erstickungstod der Diktatur manifestieren. Als Allroundintellektueller prägt Piglia, auch ein Bewunderer von Jorge Luis Borges, die gesellschaftlichen Debatten des Landes. Spiller ergänzt: „Sein Roman differenziert das bereits bei Mansilla auftretende Unbehagen an der Kultur. Er treibt die Aufklärungskritik auf die Spitze, philosophisch querverweisend auf Descartes und Heidegger, Argentinien vom deutschen Nationalsozialismus her lesend.“ Der Einfluss von Jorge Luis Borges auf die argentinische und auch auf die lateinamerikanische Literatur ist enorm: „Er kann nur in weltliterarischen Maßstäben verstanden werden, weil er den Grundstein für die transnationale und transkulturelle Literatur legt“, sagt der Frankfurter Experte für südamerikanische Literatur.

Neben einer Vielzahl weiterer Autoren, die Spiller in seinem Beitrag vorstellt, beschäftigt er auch mit der in Frankfurt und Buenos Aires lebenden Autorin, Malerin und Psychotherapeutin Marta Kapustin. Ihr Roman »Inquietud« (Unruhe, 2008) handelt von der inneren Unruhe einer Psychoanalytikerin in Buenos Aires, die für den Freitod einer Klientin verantwortlich gemacht wird. Dieser therapeutische Extremfall rückt die Beziehung zwischen Therapeut und Patient in den Mittelpunkt. Nach der schonungslos offenen Selbstbeobachtung des erstens Teils folgt im spannungsgeladenen zweiten Teil die Flucht in eine europäische Kleinstadt. (Uni Frankfurt)



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