Römische Besiedlung des nördlichen Hessischen Rieds
Ausgrabungen von Frankfurter Archäologen in der Nähe von Wallerstädten (Groß-Gerau) haben neue und überraschende Erkenntnisse zur römischen Besiedlung des nördlichen Hessischen Rieds erbracht. Das Fundmaterial lässt darauf schließen, dass das hier vermutete römische Truppenlager von den 40er-Jahren bis in die 70er-Jahre des 1. Jahrhunderts nach Christus existiert hat und damit älter ist als das bekannte Römerkastell im nahegelegenen Groß-Gerau. „Die Entdeckung und Erforschung des römischen Lagers bedeutet für die Besiedlungsgeschichte des Rieds einen völlig neuen Impuls. Bislang ging die Forschung davon aus, dass die strategisch wichtige Gegend südlich der Mainmündung – als Vorfeld der Metropole Mogontiacum, Mainz, – erst unter dem Kaiser Vespasian (69-79) dem Imperium Romanum einverleibt worden sei. Nun wissen wir, dass Groß-Gerau nicht das erste Zentrum der mediterranen Großmacht im Ried war“, erläutert Prof. Hans-Markus von Kaenel von der Goethe-Universität während eines Mediengesprächs in Wallerstädten.
Mehr als eine Generation zuvor schlug das römische Herz Südhessens an der „Biebelslache“ bei Wallerstädten. Dies konnten die Archäologen mit ihren umfänglichen Grabungen in diesem Sommer eindeutig belegen. Der Archäologe Dr. Thomas Maurer leitete diese Grabung, an der sich ab Ende Juli auch 24 Studierende des Fachs „Archäologie und Geschichte der römischen Provinzen“ beteiligten. „Sie konnte bei dieser Arbeit ihre Kenntnisse im Bereich Grabungstechnik und -methodik bestens erweitern“, sagt Maurer und ergänzt: „Anhaltspunkte für die Positionierung der Grabungsflächen boten die in den vergangenen Jahren durchgeführten Geländebegehungen sowie die in Zusammenarbeit mit einer Spezialfirma realisierten großflächigen geophysikalischen Prospektionen, bei denen im Boden verborgene Strukturen sichtbar gemacht wurden.“
Bereits 1999 hatten die Frankfurter Archäologen bei Geländebegehungen den römischen Militärplatzes am Landgraben bei Wallerstädten (Groß-Gerau) entdeckt. In diesem Sommer bot sich zum ersten Mal die Möglichkeit, im Areal des neu entdeckten Lagers den Spaten anzusetzen. Auf dem heute landwirtschaftlich genutzten Gelände (Flur „Am Schafsteg“) konnten seit 1999 über 1000 Funde auf der Ackeroberfläche geborgen werden. Sie weisen auf die zeitliche Nutzung und den Charakter des Platzes hin: Während der Regierungen der römischen Kaiser Claudius und Nero lag an dieser Stelle ein Kastell für eine Hilfstruppe. Eine Hilfstruppe war bei den Römern eine aus Mannschaften unterworfener Völker rekrutierte militärische Einheit, deren Soldaten nach Ablauf ihres 25-jährigen Dienstes das römische Bürgerrecht zugesprochen bekamen.
Maurer erläutert die Details der Grabung: „Der Fundplatz wird von einer etwa halbkreisförmigen, schmalen Niederung umgeben, deren Sohle noch bis zu 1,80 Meter unter dem Niveau der umgebenden Äcker liegt.“ Bis heute gibt diese Niederung („Biebelslache“) den Archäologen Rätsel auf: Ist sie auf natürlichem Wege entstanden? Oder handelt es sich gar um ein Überbleibsel der Wehrgräben des römischen Lagers? Die drei jetzt vorgenommen Grabungsschnitte umfassen eine Fläche von insgesamt etwa 600 Quadratmetern. Der größte Schnitt liegt unmittelbar östlich des Militärlagers im Bereich des mutmaßlichen Lagerdorfes, wo Angehörige der Soldaten ebenso lebten wie Gewerbetreibende (Flur „Die lange Gewann in der Biebelslache“). „Hier haben wir etwa 130 Bodenverfärbungen, vor allem Standspuren von Pfosten und Abfallgruben aufgedeckt, die unmittelbar auf die Lage der Siedlung an dieser Stelle hinweisen. Ein Erdkeller konnte durch die darin enthaltenen Keramikscherben in die Mitte des 1. Jahrhunderts datiert werden und gehört somit zu dem Lagerdorf“, berichtet Maurer.
Weitere Befunde stammen aus der Zeit um 100 n. Chr. bzw. aus der ersten Hälfte des 2. Jahrhunderts. „Offensichtlich haben an dieser Stelle auch nach der Aufgabe des Lagers um 70 nach Christus weiterhin Menschen gewohnt; nach dem Fundmaterial zu urteilen auch Germanen“, so der Grabungsleiter. Ob es sich bei ihnen um Nachfahren der in der Mitte des 1. Jahrhunderts im Ried lebenden elbgermanischen Bevölkerung oder um Neusiedler aus der „Germania Magna“ handelt, ist bisher nicht bekannt. Auch in der Spätantike zwischen dem 4. und 5. Jahrhundert ist der Platz wieder aufgesucht worden, ergaben die Grabungen. „Aus einem großen Grubenkomplex konnten – als typische Zeugnisse alamannischer Besiedlung – spätrömische, mit Hilfe einer Töpferscheibe hergestellte, sowie handgemachte Keramikscherben geborgen werden. Hier fand sich auch ein in mehrere Teile zerbrochener großer Mühlstein“, erläutert von Kaenel.
Inmitten des Militärlagers legten die Archäologen die zweite Grabungsfläche an. Zu ihrer großen Überraschung fanden die Forscher hier einen großen, etwa sechs Meter langen, in den lehmigen Boden eingetieften Ofen. Dazu Grabungsleiter Maurer: „Das Fundmaterial datiert ihn in die Zeit des Kastells. Indizien deuten darauf hin, dass hier Keramik hergestellt wurde. Denn Beweis müssen weitere Arbeiten an dem Ofen noch erbringen.“ Schließlich wurde in der dritten Grabungsfläche ein Profilschnitt durch die das Lager umgebende Geländeniederung angelegt. Zahllose römische Scherben, die in dem Schnitt gefunden wurden, scheinen die These zu untermauern, dass die „Biebelslache“ auf die Wehrgräben des Militärlagers zurückgeht. (Uni Franfurt)
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