Historiker editieren Tagebücher von Hans Werner Richter
Die Tagebücher von Hans Werner Richter, dem Gründer des legendären Literaturzirkels „Gruppe 47“, waren bisher völlig unbekannt. Ein Zufallsfund brachte sie ans Tageslicht. Historiker der Universität Bonn editierten nun das Werk. In seinem Diarium spart Richter nicht mit Kritik an seinen Kollegen – so etwa über Martin Walser: „schwüle Pubertät eines frühzeitig alternden Mannes“ und „welches Gequassel, welche Sucht nach Wortexperimenten“. Aus wissenschaftlicher Sicht handelt es sich bei den Tagebüchern um einen sensationellen Fund, da die bewegte Zeitgeschichte der 1960er und 70er Jahre in den Texten ihren Niederschlag findet. Das Werk „Hans Werner Richter. Mittendrin. Die Tagebücher 1966-1972“ ist nun im Verlag C.H. Beck erschienen.
In der Abgeschiedenheit eines Privathauses kamen am 6. und 7. September 1947 am Bannwaldsee bei Füssen mehrere Schriftsteller zusammen, um ihre Manuskripte vorzulesen und gemeinsam darüber zu diskutieren. Ohne großes Aufsehen war damit – schlicht nach der Jahreszahl benannt – die „Gruppe 47“ geboren, durch deren Tagungen zahlreiche Autoren bekannt wurden und die den öffentlichen Diskurs der Bundesrepublik entscheidend mitprägte. Hans Werner Richter lud per Postkarte nach seinem Gusto zu diesen Runden ein. „Mitgliedsausweise oder einen eingetragenen Verein gab es nicht“, berichtet Prof. Dr. Dominik Geppert, Historiker an der Universität Bonn, der das Editionsprojekt leitet. „Es handelte sich um einen losen Zusammenschluss, der jedoch zwei Jahrzehnte Bestand hatte.“
Zwei bis drei Mal pro Jahr verschickte Richter seine knappen Einladungen an Schriftsteller, Kritiker und sonstige ausgewählte Gäste. Die Treffen fanden an unterschiedlichen, meist entlegenen Orten statt. „Die mediale Aufmerksamkeit an der Gruppe wuchs, etliche Teilnehmer wurden bekannte Schriftsteller“, sagt Nina Schnutz, wissenschaftliche Projektmitarbeiterin von Prof. Geppert. An den Treffen nahmen so prominente Autoren wie Günter Grass, Ilse Aichinger, Alfred Andersch, Ingeborg Bachmann, Hans Magnus Enzensberger, Gabriele Wohmann und Heinrich Böll teil. Doch in der Gruppe nahmen die Spannungen zu. 1967 fand in der Pulvermühle im oberfränkischen Waischenfeld das letzte reguläre Treffen statt.
„Hans Werner Richter interessiert mich vor allem aus dem zeitgeschichtlichen Blickwinkel“, sagt Prof. Geppert. Der Briefwechsel des Schriftstellers ist seit 15 Jahren zu großen Teilen veröffentlicht, das Tagebuch war bisher völlig unbekannt. Verschiedentlich habe der Gründer der „Gruppe 47“ behauptet, kein Tagebuch zu führen, berichtet der Historiker der Universität Bonn. Durch Zufall stieß Prof. Geppert dann in einem bisher nicht bekannten Teil des Richter-Nachlasses auf die Tagebücher und traute zunächst kaum seinen Augen. „Es handelt sich dabei um einen sensationellen Fund – auch weil die Aufzeichnungen die zeitgeschichtlich außerordentlich spannenden Jahre zwischen 1966 und 1972 widerspiegeln.“ Große Koalition, Notstandsgesetze, Prager Frühling, Studentenrevolte, Ostpolitik Willy Brandts, Apollo-Mission mit der Mondlandung und die Olympischen Sommerspiele in München 1972 sind dazu nur einige Stichwörter. Mit Unterstützung der Hans Werner Richter-Stiftung setzte der Bonner Historiker das Editionsprojekt um.
Über seine Reise nach Bansin in die ehemalige DDR schreibt Richter am 10. September 1970 in sein Tagebuch: „Dort kann man studieren, wohin die totale staatliche Zwangs- und Planwirtschaft führt. Ihr zwischenzeitliches Ergebnis ist eine erschreckende Lähmung jeder individuellen Initiative.“ Am 28. Januar 1967 merkte er kritisch über die Studentenbewegung an: „… eine Demonstration, die jede echte politische Spannung vermissen ließ, und scheinbar mehr der Gaudi diente.“ Doch auch Persönliches fließt in seine Tagebücher ein – etwa wie sehr er sich mit seinem deutlich autobiographisch geprägten Buch „Rose weiß, Rose rot“ herumquälte. Nach 1967 gab es vorerst keine weiteren Treffen der Gruppe 47 mehr, weil die von Richter für 1968 auf Schloss Dobríš geplante Zusammenkunft wegen der Zerschlagung des Prager Frühlings nicht zustande kam. „Offiziell fanden keine Planungen mehr statt“, berichtet Prof. Geppert. „In den Tagebüchern zeigt sich jedoch, dass Richter sehr wohl Treffen in Jugoslawien und Österreich ins Auge fasste.“
Die Universität Bonn finanzierte 14 Monate die Stelle von Nina Schnutz, die die handschriftlichen Tagebücher von Hans Werner Richter elektronisch erfasste und bei der Kommentierung mitarbeitete. „Ziel war ein Band, der sich nicht nur an Wissenschaftler, sondern an eine möglichst breite Leserschaft wendet“, sagt die Mitarbeiterin. In Anmerkungen werden deshalb die Lebensdaten der Personen kurz erläutert, um die es in der jeweiligen Textstelle geht. Kurze Informationen gibt es auch zu den politischen Hintergründen. „Wir haben sämtliche Briefe, Texte und Sendungen, auf die in den Tagebüchern Bezug genommen wird, geprüft und die Verweise angefügt“, berichtet Prof. Geppert. In einem rund 50seitigen Nachwort ordnet der Historiker zudem die Bedeutung der Tagebücher wissenschaftlich ein.
Angaben zum Buch: Hans Werner Richter. Mittendrin. Die Tagebücher 1966-1972. Herausgegeben von Dominik Geppert in Zusammenarbeit mit Nina Schnutz. Mit einem Vorwort von Hans Dieter Zimmermann und einem Nachwort von Dominik Geppert, München 2012. Verlag C.H. Beck, 383 Seiten. Gebunden. 24,95 Euro. (Uni Bonn)
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