10. Mai 2011, Uni Konstanz

Terrorismusforscher Dr. Thomas Rid über die Krise von Al-Kaida

“Der globale Dschihad zerfasert und verliert massiv an Rückhalt in der islamischen Welt. Die Legitimität eines radikalen Islamismus nimmt längst in den Augen der Mitte muslimischer Gesellschaften ab und die Ränder der militanten Bewegung fransen aus”, erläutert der Experte für politische Gewalt Dr. Thomas Rid anlässlich der Tötung von Osama bin Laden die innere Krise der terroristischen Gruppierung Al-Kaida. Der Politikwissenschaftler Thomas Rid erforscht an der Universität Konstanz internetbasierte Kriegs- und Organisationsstrukturen und analysiert, inwiefern Al-Kaida mit ihrer eigenen Organisationsform zu kämpfen hat:
Dieselbe dezentrale Netzwerkstruktur, die der terroristischen Gruppierung eine hohe Mobilität der Mitgliedergewinnung verleiht, stelle zugleich einen selbstlimitierenden Faktor dar und hindere Al-Kaida daran, in der arabischen Welt eine breite gesellschaftliche und politische Basis erreichen zu können.

Thomas Rid beobachtet einen “Long Tail”-Effekt in der Organisationsstruktur von Al-Kaida. Der aus der Volkswirtschaftslehre entliehene Begriff “Long Tail” bezeichnet ursprünglich das Prinzip, ein Nischenprodukt mit extrem geringer wirtschaftlicher Nachfrage trotzdem in rentabler Menge absetzen zu können, indem das Absatzgebiet über das Internet ins Grenzenlose erweitert wird. Während für ein Kaufhaus auf lokaler Ebene zu wenig Kaufkraft besteht, um exotische Produkte rentabel ins Sortiment aufnehmen zu können, kann ein internetbasiertes Versandhaus selbst Nischenprodukte gewinnbringend anbieten, da es die gesammelte Nachfrage eines weitaus größeren Einzugsgebiets bedienen kann.

Thomas Rid überträgt diese Logik von Produkten auf politische Ideen und wendet sie auf internetbasierte soziale Netzwerke von Randgruppen an, darunter auch terroristische Netzwerke wie Al-Kaida: Erst das Internet erlaubt es ihnen, auf dezentraler Ebene genügend Anhänger zu finden, um eine kritische Masse zu bilden. Das “Long Tail”-Prinzip ermöglicht es somit einer ideologischen Minderheit, über die Welt verstreut genügend Sympathisanten zu erreichen, um relevant zu werden.

Die dezentralisierte “Long Tail”-Fokussierung auf Randgruppen bedeutet allerdings auf der anderen Seite, dass auf die breite Basis der Gesellschaft, den “Mainstream”, kaum Einfluss genommen wird: Die Randgruppe bleibt Randgruppe, weil sie an den gesellschaftlichen Rändern vermeintlich genügend Anhänger gewinnen kann und somit keine Notwendigkeit sieht, einen Kompromiss mit der gesellschaftlichen Basis zur Durchsetzung ihrer Ziele einzugehen. “Die klassische ,Karriere’ einer erfolgreichen politischen Widerstandsorganisation würde es aber erfordern, in die gesellschaftliche Mitte zu rücken”, erklärt Thomas Rid.

Der Politikwissenschaftler folgert, dass sich Al-Kaida aufgrund ihrer dezentralen Struktur zwar nur sehr schwer zerstören lasse, aber gesamtpolitisch nichtsdestotrotz nur eine geringe Rolle spielen werde.
Insbesondere die Frühlingsrevolutionen in Nordafrika stellten in der arabischen Welt die Legitimität von Al-Kaida in Frage, erläutert Rid:
“Diese Revolutionen konnten Kernziele der arabischen Welt umsetzen, was Al-Kaida niemals geschafft hat. Al-Kaida wird marginalisiert von der politisch ,mainstreamfähigen’ Bewegung der arabischen Jugend.”

Die Koinzidenz der arabischen Frühlingsrevolutionen mit der symbolkräftigen Tötung bin Ladens verstärke die innere Krise von Al-Kaida, so Thomas Rid weiter. Der Politikwissenschaftler prognostiziert eine Zerfaserung des Dschihad und beobachtet eine Aufspaltung des radikalen Islamismus in drei Strömungen: “Die erste Strömung besteht aus lokal agierenden islamischen Aufständischen. Die zweite Strömung formiert sich aus einem mit organisiertem Verbrechen kombinierten Terrorismus, der sich aus Drogenhandel und Erpressung finanziert. Die Mitglieder der dritten Strömung lassen sich schwerer als einheitliche Gruppe definieren. Es handelt sich dabei vornehmlich um junge Muslime, die in der zweiten oder dritten Generation in der Diaspora leben und sich in einem anhaltenden Zustand des Heiligen Krieges wähnen. Deren Motivation zum Kampf speist sich aus ihrer eigenen Unzufriedenheit”, führt Rid weiter aus.



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