16. Februar 2012, Uni Frankfurt

Karneval und Fasching als Forschungsgegenstand der Soziologie

Die närrische Session bewegt sich gerade auf ihren Höhepunkt zu. In den rheinischen Karnevalshochburgen werden wieder Millionen von Menschen ausgelassen die Umzüge und Maskenbälle feiern. Die fünfte Jahreszeit – nur eine triviale Alltagsflucht? Ganz und gar nicht, sagt der Soziologe Prof. Dr. Tilman Allert von der Goethe-Universität Frankfurt: „Wer im Fasching in eine andere Verkleidung oder Maske schlüpft, kultiviert, wenn auch zuweilen umständlich kostümiert, einen Rollentausch, der neue Perspektiven auf die Mitmenschen wie auf das eigene Ich eröffnet“, betont Allert. „Man könnte zugespitzt sagen, dass der Karneval vorübergehend ein Stück Soziologie in den Alltag der Menschen bringt.“

Das Interesse der Soziologie an Karneval und Fasching als Forschungsgegenstand habe mit dem Spannungsverhältnis von Maske und Authentizität zu tun, das elementar sei für den sozialen Auftritt des Menschen. „Jeder, der mit seiner Umwelt kommuniziert und interagiert, bedarf einer bestimmten Maske, unabhängig davon, ob er Hochschullehrer, Kaufmann oder Briefträger ist“, sagt Allert, in Anspielung auf den soziologischen Bestseller „Wir alle spielen Theater“. Jede Maske enthalte aber zugleich das Versprechen von authentischer und unverwechselbarer Selbstdarstellung und diese ewige Spannung lasse den Wunsch entstehen, auch einmal ganz anders zu sein, alles Gewohnte einzutauschen gegen eine andere Maske. Diese Grundspannung könne zwar auch im Karneval von den Narren nicht überwunden, aber doch spielerisch erforscht und erprobt werden.

Warum Karneval vor allem in katholisch geprägten Regionen tief verwurzelt ist, erklärt Allert mit der größeren Sensibilität von Katholiken für das Liturgische und Ornamentale des sozialen Lebens. „Das verinnerlichte Vertrauen in die göttliche Protektion bewahrt den Menschen gewissermaßen vor den Gefahren, die ein Rollen- oder Maskentausch mit sich bringt.“ Kulturkritiker monierten häufig, dass Karneval eine kurzzeitige Flucht vor der Realität darstelle und von anderen kollektiven Feierexzessen kaum noch unterscheidbar sei. Denen entgegnet Allert: „Ausgelassenheit und die zugelassene Regression auf den ganz anderen sozialen Auftritt können sich verselbstständigen, der Exzess ist leider eine eingebaute Riskanz des Ganzen.“

Richtig sei aber, dass das Verhältnis von Fasching und Alltag sich langfristig verändern könne. Denn die Gesellschaft sei in den letzten 50 Jahren viel toleranter und offener gegenüber abweichenden, auch exzentrischen sozialen Masken geworden. „Selbst bei einer verbeamteten Berufsgruppe wie den Zugschaffnern sind Piercings, Tätowierungen und auffällige Frisuren heute gang und gäbe. Vielleicht enthält der Karneval die geheime Botschaft an die Gesellschaft, nonkonforme Kostümierungen nicht allzu ernst zu nehmen.“ Insofern könne dem Fasching eine produktive, die Elastizität von sozialen Beziehungen erhöhende Funktion zugeschrieben werden: „Et kütt wie et kütt.“

Die Goethe-Universität ist eine forschungsstarke Hochschule in der europäischen Finanzmetropole Frankfurt. 1914 von Frankfurter Bürgern gegründet, ist sie heute eine der zehn drittmittelstärksten und größten Universitäten Deutschlands. Am 1. Januar 2008 gewann sie mit der Rückkehr zu ihren historischen Wurzeln als Stiftungsuniversität ein einzigartiges Maß an Eigenständigkeit. Parallel dazu erhält die Universität auch baulich ein neues Gesicht. Rund um das historische Poelzig-Ensemble im Frankfurter Westend entsteht ein neuer Campus, der ästhetische und funktionale Maßstäbe setzt. Die „Science City“ auf dem Riedberg vereint die naturwissenschaftlichen Fachbereiche in unmittelbarer Nachbarschaft zu zwei Max-Planck-Instituten. Mit über 55 Stiftungs- und Stiftungsgastprofessuren nimmt die Goethe-Universität laut Stifterverband eine Führungsrolle ein. (Uni Frankfurt)



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